Mein Traum von Kirche

Kurze Info zum folgenden Blogpost

Dieser Blogartikel ist Teil der letzte Aufgabe eines Kurses innerhalb meines Masterstudium. Ich freue mich riesig, wenn du ihn liest und mir ein kurzes Feedback (bis Mitte November 2021) zukommen lässt. Eine Reflexion der Feedbacks ist dann der letzte Teil der Arbeit.

Der eigentliche Artikel 🙂

Ich habe mich in diesem Kurs viel mit dem Thema Kirche und ihren Formen beschäftigt. Nun soll ich darlegen, was mein Traum von Kirche ist. Ich kann zwar gut über Kirche philosophieren, aber die konkrete Frage hat mich dann doch enorm gefordert. Ich habe in meinem Studieren, Nachsinnen, Reflektieren etc. gemerkt, dass ich meinem Traum von Kirche keine fixe Form geben kann. In meinem Kopf dreht sich die Kirche nicht um: sind wir jetzt ICF? sind wir charismatisch? sind wir Hauskreiskirche? …

Ich bin ein Vertreter der form follows function Methode, wenn es um die Gestalt der Kirche geht. Das heisst, wie die Kirche schlussendlich aufgebaut ist, wie sie funktioniert, welche Dienste sie hat, etc. ist für mich eine Frage in zweiter Reihe. In der ersten Reihe haben sich meine Gedanken vorallem darum gedreht, was Kirche eigentlich sein soll. Das Resultat ist der Inhalt dieses Artikels:

Die Kirche steht in einem Spannungsfeld zwischen zwei Bezugspunkten – der eine ist Gott, der andere ist der Mensch – Warum erzeugt das ein Spannungsfeld?

Nun… die Kirche ist ein Ort, wo sich alles um Gott drehen soll – aber ist dir schon einmal aufgefallen, wie oft es in der Kirche um den Menschen geht? Menschen erreichen, Menschen fördern, Menschen bejüngern, Menschen in den Diensten versorgen, Menschen helfen, Menschen, Menschen, Menschen…

Nein, ich hau jetzt nicht mit dem bösen Humanistenhammer auf die Kirche drauf – ich finde dieses Verhalten richtig! Die Kirche ist als Gefäss für den Menschen gemacht. Nicht für Gott. Gott braucht keine Kirche! Das Kernanliegen der Kirche ist eben gerade der Mensch… weil das Kernanliegen Gottes der Mensch ist. Hier geht es nicht darum, den Rest der Schöpfung abzuwerten – aber das Herz des Menschen zu erreichen ist das Kernanliegen Gottes. Warum? – Jetzt bricht kurz der Prediger in mir durch…

26 Dann sprach Gott: „Lasst uns Menschen machen als Abbild von uns, uns ähnlich. Sie sollen über die Fische im Meer herrschen, über die Vögel am Himmel und über die Landtiere, über die ganze Erde und alles, was auf ihr kriecht!“27 Da schuf Gott den Menschen nach seinem Bild, er schuf ihn als sein Ebenbild, als Mann und Frau schuf er sie.

1. Mose 26-27

Gott schafft den Menschen nach 1. Mo 1, 26-27 in seinem Bild. Kurz darauf folgen zwei Aufträge – Füll die Erde, Herrsche über die Schöpfung. Im Befüllen der Erde sind wir je nach Weltregion mit ziemlich guten Zahlen dabei – aber der zweite Teil ist spannend für die Kirche: Herrsche über Gottes Schöpfung – dieser Auftrag klingt bereits in Vers 26 an.

Herrschen triggert bei uns komische Bilder von auoritären, gewalttätigen Regimes, wie Nordkorea, etc. Das ist aber alles nicht gemeint! Im Bilde Gottes geschaffen um im Bilde Gottes zu herrschen. So wie es Gott tun würde. Das heisst wir sollen die Schöpfung: schützen, pflegen, fördern, freisetzen – durch alles hindurch Lieben. Gott hätte selbst auf die Welt kommen können, er gibt sie aber in die Hand seiner in seinem Bilde geschaffenen Menschen und sagt: Ihr herrscht über die Schöpfung, so wie ich das tun würde- an euch soll die Schöpfung mich erkennen! Durch euch soll meine Liebe in die Welt kommen.

Und deshalb ist das Erreichen des Herzen des Menschen Gottes Kernanliegen – und wenn es Gottes Kernanliegen ist, dann muss es auch das Kernanliegen der Kirche sein. Ja es geht in der Kirche um Gott – und sein Anliegen ist der Mensch.

Dementsprechend ist die Kirche Gott gegenüber verantwortlich, den Menschen zu helfen so zu werden, wie Gott sie gedacht hat. Nicht so, wie die jeweilige Kirche sich das gerade wünscht. Das Ziel ist nicht, möglichst gute Kirchenschafe zu züchten – das Ziel ist es, Menschen Begegnungen mit Gott zu ermöglichen und sich dann gegenseitig auf diesem Weg mit Gott zu begleiten. Menschen sollen fähig werden so zu werden, wie Gott sie gedacht hat – eben in seinem Bild – und so auf die Welt einzuwirken.

Das heisst aber für die Kirche, dass sie den Menschen freisetzen muss, damit er seine Herrschaft – so wie vorher definiert – in dieser Welt leben kann. Die Kirche soll den Menschen nicht zurechtbüscheln, dass er möglichst gut in die jeweilige Kirche passt, sondern so, dass er möglichst fähig wird, die Liebe Gottes in sein tägliches Leben hineinzutragen.

Was bedeutet das konkret? Der IT-ler soll Gottes Liebe in seinen Programmcode hineinbringen. Der Automech in seine Werkstatt, der Schreiner ins Möbel, der Politiker in die Partei, der Finanzberater an die Börse, die Eltern in die Kinder. Die Kirche hat vor dem Menschen die Verantwortung, ihn nicht aus der Welt hinaus zu nehmen, sondern im Gegenteil ihn in die Welt hineinzusenden – als Aussendienstmitarbeiter von Gottes Herrschaft. Menschen für diesen Dienst an der Welt fit zu machen – das ist der Auftrag der Kirche.

Diese Kirche darf alle möglichen Formen annehmen, welche der Situation dienen. Mein Traum ist es, solche Kirchen zu sehen. Diese Kirchen haben ein Existenzrecht um der Menschen willen, die mit Gottes Liebe erfüllt werden sollen. Gott ist attraktiv – man muss ihn nicht attraktiv machen. Menschen, die mit Gottes Liebe erfüllt in die Welt hinausgehen, um eine dienende Herrschaft zu leben, werden andere Menschen anziehen – weil Gottes Liebe attraktiv ist.

Und dies ist mein Traum von Kirche – von jeder Kirche – egal ob schon existent, oder neu gegründet. Eine Kirche die Menschen hilft so zu werden, wie Gott sie gedacht hat – in enger Beziehung zu ihm. Damit diese Menschen Gottes Liebe, in die Welt tragen können.

#short: Salz der Erde

Kürzlich las ich in einem Buch etwas spannendes zum Thema Salz. Jesus braucht ja diese Aussage in Matthäus 5, 13:

„“Ihr seid das Salz der Erde. Wenn das Salz aber seine Wirkung verliert, womit soll man es wieder salzig machen? Es taugt zu nichts anderem mehr, als auf den Weg geschüttet und von den Leuten zertreten zu werden.“

Matthäus‬ ‭5:13‬ ‭NBH‬‬

Salz kann aber, rein Chemisch, seine Wirkkraft nicht verlieren. Salz bleibt Salz. Jetzt wusste Jesus vor 2000 Jahren das vielleicht einfach nicht. Wäre eine Möglichkeit. Oder… Vielleicht ist die Aussage Jesu hier auch ganz bewusst. Das Problem beim Salz ist nicht, dass es seine Salzkraft verliert, das Problem entsteht dann, wenn das Salz vergisst, Salz zu sein.

Ich esse Salz niemals pur und unverarbeitet – Salz ist dann lecker, wenn es ein sich auflösender Bestandteil eines anderen Gerichtes ist. Im finalen Gericht, da sieht man das Salz nicht mehr – es ist eingegangen in das Gesamtgebilde – aber es fehlt dramatisch etwas, wenn es nicht da ist.

Was heisst das für. uns, wenn Jesus meint, wir sollen „Salz der Erde“ sein? Ein Vorschlag: Vielleicht meint Jesus genau, die Kraft seines Evangeliums entfaltet sich nicht da, wo sie als reine Gegenkraft zu allem auftritt, was in der Welt passiert. Viel mehr soll sie eben Bestandteil dessen werden, was in der Welt passiert – nicht als Bestätigung für allerlei Übel, sondern als prägende Kraft – genauso wie Jesus das Reich Gottes mit dem Sauerteig vergleicht, welcher hineinvermengt wird, in den Teig, und von innen nach aussen alles durchsäuert. Im Schlussprodukt sind die Bestandteile „Sauerteig“ und „Teig“ nicht mehr zu trennen – aber dominant ist die Wirkung des Sauerteigs.

Wie können wir unser Leben so leben, dass es eben Salz für die Welt ist? Dass es nicht zwingend gross, laut und auf den ersten Blick ersichtlich ist – aber dass es die dominante Kraft ist in den Umständen, in welche Gott uns hineinstellt?

#short: Ist Jesus mein Messias?

Im Kontext meiner Gedanken beantworte ich diese Frage hier mit nein. Jesus ist nicht mein Messias – er ist Gottes Messias. Ich habe mich kürzlich etwas mit dem Sühneopfer-Verständnis Israels beschäftigt (vielleicht schreibe ich da mal etwas mehr dazu). Dabei ist mir aufgefallen, dass dieses Opfer nicht von Israel an Gott, sondern eigentlich von Gott an Israel geht. Es ist also nicht Israels Weg zurück zu Gott – so als hätten sie selbst einen Weg entdeckt und begehbar gemacht – sondern viel mehr hat Gott seinem Volk diesen Weg gezeigt und ermöglicht. Es ist Gottes Weg zurück zu seinem Volk.

Vorschlag: Warum sehen wir uns Jesus nicht auch einmal in diesem Licht an? Mich beschleicht so das Gefühl, dass wir hier etwas entdecken, dass uns vielleicht nicht gefallen wird. Wenn wir uns Jesus zu eigen machen – in Formen wie fixen Übergabegebeten zum Beispiel – dann haben wir Jesus in der Hand. Ich kann ihn jemandem bringen (Evangelisation/ Mission). Ich kann ihn anwenden. Ich kann entscheiden, wo er wirkt und wo er nicht wirkt – schlussendlich kann ich entscheiden, wer zu ihm gehört und wer nicht, je nach meinem dogmatischen Verständnis.

Aber ist Jesus nicht zu aller erst Gottes Messias? Jesus ist kein Tool in meinem christlichen Werkzeugkasten – er ist der Oberhammer (sorry für das flache Wortspiel) in Gottes Werkzeugkasten. Im Epheserbrief spricht Paulus von Gottes Plan:

9 Und weil es ihm so gefiel, hat er uns Einblick nehmen lassen in das Geheimnis seines Willens, den er in Christus verwirklichen wollte. […] 11 In ihm haben wir auch ein Erbe zugewiesen bekommen. Dazu hat er uns von Anfang an bestimmt. Ja, das war die Absicht von dem, der alles verwirklicht, was er vorhat.

Epheser 1, 9 & 11

9 und ans Licht zu bringen, wie Gott dieses Geheimnis nun verwirklicht hat; diesen Plan, den der Schöpfer aller Dinge vor aller Zeit gefasst hat und bis jetzt verborgen hielt. […] 11 denn so entsprach es dem ewigen Plan Gottes, den er in Jesus Christus, unserem Herrn, verwirklicht hat. 12 Und weil wir uns auf ihn verlassen, haben wir den freien Zugang zu Gott, den wir in aller Offenheit und voller Zuversicht nutzen.

Epheser 3, 9 & 11-12

Gott hat durch Jesus für uns einen Weg geschaffen – sein Plan, nicht unserer. Gott hat das Tool Messias in der Weltgeschichte angewandt – und zwar erfolgreich. Ich denke, wir sollten immer im Kopf behalten, dass Jesus und alles, was uns in ihm gegeben ist, nicht zur Verfügung steht. Gott beschenkt den Menschen hier. Gott schenkt aber wie, wo und wann er will. Gott muss sich in der Anwendung des Messias nicht nach unserem Heilsverständnis richten – unser Heilsverständnis muss auf den Messias reagieren.

#short: Die Sinnfrage und unsere korrekte falsche Antwort

Was ist der Sinn des Lebens?

Wahrscheinlich die grösste und komplexeste Frage der Neuzeit. In christlichen Kreisen gibt es eine einfache Antwort darauf: Jesus! – und ich glaub sogar, dass diese Antwort korrekt ist. Nur… was bedeutet sie denn eigentlich? Mir fällt auf, dass diese korrekte Antwort eigentlich überhaupt nichts beantwortet. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist ja keine Metaphysische, sondern eine praktische: Wer bin ich und was soll ich tun? In der christlichen Szene wird diese Frage einfach neu formuliert mit: Was ist meine Berufung? Ich habe das Gefühl, dass es mit dieser Antwort ähnlich ist, wie mit folgendem Beispiel:


Ich verstehe nichts von Astrophysik. Wenn ich jetzt in eine Mastervorlesung an der Uni sitze und dort eine Formel gezeigt wird, mit welcher man das Gewicht einer Galaxie anhand ihrer Leuchtkraft etc. berechnen kann… dann kann ich mit meinem Handy diese Formel fotografieren, sie mir als Poster ausdrucken und zuhause an die Wand hängen. Wenn jetzt jemand wissen will, wie man das Gewicht einer Galaxie berechnet, dann kann ich auf das Poster zeigen und sagen: „Da! Kuck, das ist die richtige Antwort!“ – und die Antwort ist korrekt. Aber das heisst noch lange nicht, dass ich sie verstehe.


Ich komme nicht umhin, mich mit Grund- und Aufbaustudium zu befassen, damit ich irgendwann vielleicht diese Formel verstehen kann. Genauso komme ich nicht umhin, mich mit Menschen, ihrer Biografie, ihren Fähigkeiten, Gaben und Talenten und ihren Möglichkeiten zu befassen, wenn ich Ansätze einer Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens (…oder nach ihrer Berufung) finden möchte.

Wunschbibliologie und die heilige Vierfaltigkeit

Im Folgenden möchte ich ein paar Gedankengänge zum Ausdruck bringen, die mich schon lange intensiv beschäftigen. Dabei ist mir wichtig zu sagen, dass ich sie noch nicht zu Ende gedacht habe! Das ist also kein pfannenfertiges Konstrukt, sondern ein Gefüge von Eindrücken, Erlebnissen, dogmatischen Ansichten und Spannungen, die sich in mir tummeln.

In einem Satz ausgedrückt: Ich sorge mich darum, dass in Evangelikalien Bibel und Gott so sehr verschwimmen, dass wir nicht mehr fähig sind, sie zu unterscheiden.

Kann man ein Problem mit der Bibel haben, ohne ein Problem mit Gott zu haben? Kann man die Bibel nicht richtig verstehen und trotzdem mit Gott richtig unterwegs sein? Darf man die Bibel kritisieren oder hinterfragen, ohne dabei Blasphemie zu betreiben? Natürlich ist das Thema auch zeitgeistlich aktuell. Wir reden ja heute von Evangelikalismus und Postevangelikalismus. Die Postevangelikalen (zu denen ich mich wohl zählen müsste, wenn Postevangelikale wie ich auf Labels stehen würden… tue ich aber nicht) sind nirgendwo konkret definiert, ich verweise jedoch gerne auf diesen Post hier. Ich habe das Gefühl, das sich ein grosser Teil innerhalb von Evangelikalien mit der grundlegenden Herangehensweise an die Bibel beschäftigt. Die Frage, ob sie das von Gott erwählte Kommunikationsmedium ist, einzigartig, wahr und höchste Autorität, stellt sich nach meinem Dafürhalten meistens gar nicht. Zumindest nicht von Seiten der Postevangelikalen – dann wären sie ja keine Evangelikalen mehr. Aber es stellt sich sehr wohl die Frage, ob die klassischen Ansichten und Herangehensweisen die ewig gültig Korrekten sind. Wenn Jesus also wiederkommt und sein Königreich finalisiert und aufrichtet auf dieser Welt, wird er dann zum Bibelverständnis der Evangelikalen sagen: „Genau so habe ich das gemeint. Alles perfekt! Da kann selbst ich nichts mehr verbessern!“ Ist das die Erwartung? Nun, für mich ist sie das freilich nicht. Ich glaube, dass wir noch vieles falsch verstehen und das heisst, wir müssen uns weiterentwickeln. Das Bibelverständnis hat sich in der Kirchengeschichte, vor und nach der Reformation, immer wieder verändert und entwickelt. Warum sollte es da in Evangelikalien halt machen?

Vielleicht denken jetzt einige, dass wir uns doch immer entwickelt haben. Einst glaubten wir, die Sklaverei sei ein biblisches Prinzip, in den USA hat man sogar explizit die Versklavung der afrikanischen Völker biblisch belegen wollen. Einst glaubten wir, Israel sei verworfen, Juden nicht mehr Teil von Gottes Plan. Einst glaubten wir, die Frau sei Besitz des Mannes. Das haben wir doch alles geändert. Ja das stimmt. Das haben wir geändert und Halleluja dazu! Aber sollte uns nicht genau das demütig machen? Wir sollten nicht Stolz empfinden im Sinne von „Wir sind einfach gut! Das haben wir erkannt!“ Wir sollten uns eher in Demut neigen und bekennen: „Ja, solchen Quatsch haben wir einst biblisch belegt bzw. belegen wollen.“ Mir ist übrigens bewusst, dass ich diese ganzen Glaubenssätze nicht direkt mit dem evangelikalen Bibelverständnis in Verbindung bringen kann. Mir geht es um den Beispielscharakter dieser Aussagen in Bezug auf das Bibelverständnis. Aber das Festhalten an der Bibel bzw. den eigenen Verstehensbedingungen der Bibel (mehr dazu, siehe hier), ist ja gerade eine Tugend und durchaus auch eine Stärke der evangelikalen Bewegung. Einer meiner ehemaligen Pastoren hat aber treffend bemerkt, dass auf der anderen Seite einer grossen Stärke meist auch eine grosse Schwäche liegt. Wahrscheinlich liegt da auch irgendwo ein Blinder Fleck. Einen blinden Fleck sieht man aber nicht – daher der Name. Man kann sich bewusst sein, dass man ihn hat, aber man sieht ihn eben nicht. Man braucht Andere, um ihn zu sehen. Ich höre im Zuge der Diskussion um das Bibelverständnis immer wieder, dass man sich ja verändere, dass man ja reflektiere, dass man sich ja bewusst sei, dass man auch Begrenzungen habe – aber alles immer im Rahmen der selbst gezogenen Grenzen. Genau da liegt doch das Problem oder nicht? Ich kann mich nicht selbst an den Haaren aus dem Sumpf ziehen. Einen Menschen zu haben, der mich dann sieht, packt und rauszieht ist doch ein Gottesgeschenk. Da frage ich doch nicht zuerst, ob der an allen Ecken in seinem Leben aufrichtig und gut ist, sondern bin einfach froh, dass er mir helfen konnte. Ich übernehme deswegen auch nicht gleich seine Lebenseinstellung und Weltanschauung. Wenn ein nicht-Evangelikaler eine Anfrage an unser Bibelverständnis stellt, dann werde ich doch nicht gleich nicht-Evangelikal, nur weil ich ihn/sie ernst nehme und mich aktiv damit auseinandersetze – nicht um die Anfrage zu widerlegen, sondern um sie ernsthaft vor Gott zu prüfen. Vor Gott, nicht vor meiner Dogmatik! Dieser sehe ich mich nicht verpflichtet. Ich habe mich für Jesus entschieden und für das Königreich Gottes, nicht für… Billy Graham und Evangelikalien.

Wenn wir uns Anfragen zu unserem Bibelverständnis nur von den Menschen gefallen lassen, die den gleichen Stallgeruch wie wir selbst aufweisen, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn wir irgendwie stehenbleiben. Und ja, der Heilige Geist wirkt in uns, spricht zu unseren Herzen und kann uns direkt und ohne den Umweg über andere Menschen verändern. Mir fallen hierzu aber zwei Dinge ein. Erstens die Entdeckung von Kopernikus, welcher postulierte, dass die Erde sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Ernst genommen wurde er zu seinen Lebzeiten nicht. Einer seiner Zeitgenossen, Johannes Calvin, bezeichnete klar jegliche Anhänger eines heliozentrischen Weltbildes als Ketzer und Verräter an der Heiligen Schrift. Man kann also durchaus auf etwas Korrektes hinweisen, wenn aber alle davon überzeugt sind, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, dann nützt das überhaupt nichts. Eher noch wird man der Häresie beschuldigt und ausgestossen (wie Galileo oder auch Luther, unser Lieblingsreformator). Das Zweite, was mir in den Sinn kommt, ist ein Witz (im wörtlichen Sinne) und der geht so:

Der Papst ist auf Gondelfahrt in Venedig. Er kentert und das Wasser steht ihm bis zur Brust. Er strampelt sich mühsam ab. Da kommt ein Gondoliere und möchte ihn in seine Gondel nehmen. Der Papst bedankt sich aber erwidert überzeugt: „Nein, Gott wird mich retten!“ Nach einer Stunde ist der Papst müde und das Wasser steht ihm bis zum Hals. Da kommt der gleiche Gondoliere wieder und möchte ihn nun endlich retten. Der Papst ist aber immer noch nicht bereit in die Gondel einzusteigen und meint wieder „Gott wird mich retten!“. Ein drittes Mal kommt der Gondoliere vorbei, der Papst kann gerade noch seinen Mund aus dem Wasser heben um zu proklamieren „Gott wird mich retten!“ Der Papst ertrinkt und kommt in den Himmel. Dort trifft er Gott und fragt etwas empört, warum er ihn nicht gerettet habe. Darauf erwidert Gott: „Was glaubst du eigentlich, wer drei Mal den Gondoliere bei dir vorbeigeschickt hat?“

Ich glaube, dass unsere blinden Flecke uns durchaus auch blind machen können für Gottes Reden in unserem Leben. Dann brauchen wir effektiv andere Menschen um uns herum, denen wir vertrauen (dieses Vertrauen darf nicht auf dogmatischer Einheit basieren!) und die uns Hinweise geben können. Aber wenn wir diese auch nicht ernst nehmen… Ja es ist sehr angenehm, sich nur in den eigenen Kreisen zu bewegen, wo man nichts als Bestätigung erhält für die eigene Meinung. Aber wenn man sich entwickeln und wachsen will, dann ist das sicherlich nicht förderlich. Ich sorge mich darum, dass wir Evangelikalen nicht merken, dass uns unsere Überzeugungen zu Ideologen machen – dann geht’s plötzlich nicht mehr darum, was wirklich stimmt, sondern es geht um das, was wir als stimmig ansehen. Ich habe schon öfters in Gesprächen gesagt, dass nach meiner Erfahrung die Evangelikalen den Katholiken in Dogmatismus und Traditionalismus in nichts nachstehen. Auch wir halten gerne an dem fest, was unsere Väter und Vorväter gesagt haben. Und während die katholische Kirche erklärt „Es gibt kein Heil ausserhalb der Kirche“, sehe ich im Verhalten und Denken vieler Evangelikalen die Aussage durchscheinen „Es gibt kein Heil ausserhalb unserer Lehre/ unseres Bibelverständnisses“. Und genau hier, verschwimmt die Bibel auf eine extrem krasse Weise mit Gott. Wir proklamieren natürlich, dass in Jesus Christus alleine das Heil ist, aber wir stellen diesen Christus unter das Vorzeichen unseres Bibelverständnisses. Nur den Jesus, den wir deduktiv aus der Bibel ableiten können, nur dieser Jesus hat wirkliche Erlöserkraft. Ist also jemand mit unserem Bibelverständnis nicht einverstanden, dann kann er/sie nicht wirklich mit Gott unterwegs sein, kann nicht wirklich erlöst sein – ist nicht wirklich gläubig.

Wohin das führen kann? Aus den erzkonservativen evangelikalen Kreisen, besonders (aber nicht ausschliesslich) aus den USA, klingt es dann gegenüber anderen Bewegungen oft so: „Sie verkünden ein falsches Evangelium, dass zu einem falschen Jesus führt, der nicht erlösen kann und kommen dann in die Hölle!“. Nun… Ja, wenn das Wort falsch meint, dass der Glaube und die Botschaft dieser Bewegungen sich nicht ihren biblischen Verstehensbedingungen unterordnen, dann ist das Evangelium natürlich aus ihrer Sicht falsch. Bei Jesus wird’s dann noch krasser. Also – wenn sich Jesus ihren Verstehensbedingungen nicht unterordnet… dann ist es nicht Jesus? Schlussendlich, wer in diesen beiden Fragen irrt, landet in der Hölle? Also sprich: Wer meinem Bibelverständnis nicht glaubt, der glaubt nicht an Jesus, der ist nicht gerettet, der kommt in die Hölle? Da sind wir doch: „Es gibt kein Heil ausserhalb unserer Lehre/ unseres Bibelverständnisses“. Die Einfachheit, mit der behauptet wird, dass die eigene Sicht die einzig Wahre und Richtige ist, schockiert mich immer wieder. Ich habe eine gewisse Sympathie für die Argumentation, dass Jesus nicht veräusserbar ist. Ich ziehe meine Glaubensgrenzen auch eher bei der Christologie. Aber meine Christologie ist nicht nur ein reines Produkt meiner Hermeneutik bzw. meiner Bibliologie, da ich mir bewusst bin, dass Jesus meine Vorstellung von ihm immer transzendiert.

Ich befinde mich mit meinen Überlegungen übrigens immer noch im Kreise der Christusgläubigen. Ja, ich glaube auch, dass uns kein anderer Name gegeben ist, in dem wir gerettet werden sollen, als allein der Name Jesus Christus, wie es in Apostelgeschichte 4 heisst. Ich rede nicht davon, dass man nicht sagen darf, dass es eine einzige Wahrheit gibt. Diese Wahrheit ist aber nicht (m-)eine Meinung, sie ist eine Person, Jesus sagt ja „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ – nicht „ich kenne die Wahrheit“, nicht einmal „ich verkünde euch die Wahrheit“, auch wenn ich beide Aussagen als absolut richtig bezeichnen würde, aber er sagt „Ich bin…“. Die Wahrheit ist kein Abstraktum, dass sich aus einer exegetischen Analyse ableiten lässt, sie ist eine Begegnung, eine Beziehung. Natürlich kann diese Beziehung durch exegetische Analyse erfolgen, das verneine ich überhaupt nicht, aber nicht sie erzeugt die Wahrheit, am Ende dieses analytischen Prozesses erkennen wir die Wahrheit – in der Beziehung zu Jesus, die tiefer und reicher wird. Das Problem ist aber, dass Jesus viel zu gross ist, als dass man ihn in menschlichen Bezügen definieren könnte. Ich benutze gerne folgendes Beispiel:

Stell dir vor Jesus steht in der Mitte eines grossen Raumes und du stehst, mit 30 anderen Personen in einem grossen Kreis um ihn herum. Jetzt bekommt jeder ein Blatt Papier und einen Stift und alle müssen Jesus zeichnen. Jene, die nebeneinander stehen, werden wahrscheinlich fast identische Zeichnungen anfertigen, die sich nur in Nuancen unterscheiden. Aber vergleiche doch einmal die Zeichnung derer, die vor Jesus stehen und sein Gesicht sehen mit der Zeichnung jener, die hinter ihm stehen und seinen Hinterkopf begutachten. Unterschiedlicher könnte die Zeichnung wohl nicht sein. Oder nimm jene zu seiner Rechten und jene zu seiner Linken, wahrscheinlich werden sie etwas identisches Zeichnen, aber genau in die entgegengesetzte Richtung. Aber alles zusammen ergibt erst das stimmige Bild von Jesus – auch wenn auf den ersten Blick einige überhaupt nicht zusammenpassen!

Ich liebe es, mit Menschen auszutauschen, die einen anderen Blickwinkel auf Jesus haben. Ich, im besten und freundschaftlichsten Sinn, streite auch gerne um Verstehensbedingungen, um hermeneutische und exegetische Schlüssel und Positionen, solange wir am Schluss gemeinsam ein Abendmahl feiern können, in dem wir uns eins mit Gott und eins miteinander machen im Wissen, dass uns der Glaube an den einzig wahren Gott vereint. Dieser Gott hat uns in seiner Gnade ein einzigartiges, wahres und voll vertrauenswürdiges Buch hinterlassen. Ein Buch dass durchdrungen ist von seinen lebenspendenden Gedanken. Ein Buch, dass uns anspornen soll, seine Liebe und Gegenwart zu suchen. Ein Buch, dass von seiner Ontologie her aber keine Göttlichkeit besitzt, sondern durch die Entscheidung und das Reden Gottes zum autoritativen Schriftwerk wird – wir schreiben ihr keine Göttlichkeit zu, wir erkennen Gottes Reden darin an.

Nach was sehne ich mich, wider der Befürchtungen, die ich in diesem – ich muss das wiederholen – noch nicht zu Ende gedachten Denkprozess zum Umgang mit der Bibel in der evangelikalen Gemeinschaft, dargelegt habe?

  • Ich sehne mich nach einer Bibliologie, in welcher wir eine gesunde Unterscheidung zwischen Bibliologie und Christologie machen können. Es geht nicht um eine Trennung, es geht auch nicht darum, Jesus und die Bibel gegeneinander ins Feld zu führen (obwohl schon Luther diese Möglichkeit prophezeite – und er schlug sich auf die Seite Jesu in diesem Konflikt). Es geht um eine Unterscheidung zwischen der durch meine Verstehensbedingungen nicht der Veränderung unterworfenen Offenbarung von Gottes lebendigem Wort in Jesus, und der durch meine Verstehensbedingungen von mir subjektiv interpretierten und somit veränderbaren Rezeption seines geschriebenen Wortes, der Bibel.
  • Ich sehne mich nach einer Bibliologie, die es zulässt zu sagen, dass mein Verstand, mein irdisches Sein, meine Unfähigkeit, mehr als Stückwerk zu erkennen, die biblische Botschaft nicht verändert, aber durchaus verzerrt.
  • Ich sehne mich nach einer Bibliologie, die zur Demut im Umgang mit der Bibel aufruft, im Bewusstsein, dass wir alle von diesem Verzerrungseffekt betroffen sind, und dass wir andere Menschen brauchen, um ein vollständigeres Bild dessen zu erhalten, von was die Bibel Zeugnis abgibt – das ist Jesus selbst.
  • Ich sehne mich nach einer Bibliologie, die mutig ist, den in Evangelikalien beheimateten, und von mir absolut unterstützten Sachverhalt von: „Die Bibel ist ganz Menschenwort und ganz Gotteswort“ nicht bei jeder kleinsten Spannung, die sich ergibt, zugunsten von „Gotteswort“ aufzulösen.
  • Ich sehne mich nach einer Bibliologie, die mutig ist, nicht aufgrund eines an die Bibel herangetragenen Axioms, alles in der Bibel zwingend zu harmonisieren – lassen wir Widersprüche, Fehlangaben und Spannungsverhältnisse auch das Zeugnis der Bibel sein. Harmonie und Disharmonie findet sich in der Bibel und definitiv auch in unseren Leben. Wahrer könnte der biblische Bericht demnach kaum sein.
  • Ich sehne mich nach einer Bibliologie, die sich nicht selbst als Ziel des soteriologisch wertvollen Glaubens sieht, sondern ein Wegweiser zu soteriologisch wertvollem Glauben darstellt.
  • Ich sehne mich nach einer Bibliologie, die einen ganzheitlichen Anspruch an unser Leben und nicht allein auf das Seelenheil ausgerichtete Elemente enthält.
  • Ich sehne mich nach einer Bibliologie, die eine gesunde Mischung aus der exegetischen Arbeit und der hermeneutischen Arbeit zulässt.
  • Ich sehne mich nach einer Bibliologie, die sich in einem interdependenten hermeneutischen Ergänzungszusammenhang mit unserer Kultur und unserer Zeit sieht.
  • Ich sehne mich nach einer Bibliologie, die nicht im Angstreflex mit Pappkameraden und Schwarz-/Weissdenken um sich wirft, sondern sich in vertrauensvoller, sanftmütiger und liebevoller Art und Weise den Anfragen und Zweifeln stellt.
  • Ich sehne mich nach einer Bibliologie, die nicht mehr als Waffe instrumentalisiert wird, um die Unsicherheit der eigenen Überzeugungen bei Unstimmigkeiten zu verteidigen.
  • Ich sehne mich nach einer Bibliologie, die nicht Ideologie wird, sondern in allen Punkten diskutierbar sein darf.

Vielleicht müsste ich dieser Liste noch der Vollständigkeit halber anfügen, ich sehne mich nach einer evangelikalen Gemeinschaft, die mutig ist, sich auf verschiedene Ansätze der Bibliologie einzulassen. Nicht zur Verwirrung oder zur Zersetzung des Glaubens, sondern zur Stärkung und zugunsten der Vielfältigkeit in der Einheit als Söhne und Töchter Gottes.